Pressestimme - Eins auf die Fresse - Badische Zeitung

Badische Zeitung, 09.11.2009


Warum hat sich Matze erhängt?
Das Jugendtheaterstück "Eins auf die Fresse" feierte im Freiburger E-Werk Premiere

"Eins auf die Fresse!" – Mehr gibt´s nicht bei dummen Fragen in gleichnamigem Jugendstück von Rainer Hachfeld. Rauer Ton und harte Sitten, Abzocke, Mobbing und Gewalt – viel hat sich da wohl nicht geändert seit der Uraufführung des Berliner Gripstheaters vor dreizehn Jahren. Krass wirkt der Stoff anfangs trotzdem auf der Freiburger E-Werk- Bühne, schließlich steht die Ökostadt oberflächlich betrachtet für Akademikertum und Beschaulichkeit. Wer denkt da schon an Psychoterror auf dem Schulhof?

Offensichtlich viele. Restlos ausverkauft ist zur Premiere der große Saal, auch erfreulich viele männliche Jugendliche finden sich im Publikum. Zeitgemäß und rasant ist die vom Kulturamt Freiburg, dem Landesverband Freier Theater und vielen anderen Sponsoren geförderte Inszenierung des neugegründeten Freiburger Theaters Radix08 (Regie: Marlene Wenk, Georg Blumreiter), der im Rahmen des vom Bundesfamilienministerium aufgelegten Programms "Stärken vor Ort" das spartenübergreifende Jugendkulturprojekt "NO GO – mittendrin schau hin" voranging.

Ein schwarzer Sarg wird auf die von hohen, graffitibesprühten Betonwänden begrenzte Bühne (Manfred Loritz, Aurela Zea Giraldo) gerollt: Matze ist tot, der Neuntklässler hat sich erhängt. Was seine drei Mitschüler Lucky (Ives Pancera), Minnie (Susanne Henneberger) und Lana (Veronika Sautter) nicht davon abhält, sich noch inmitten der Kränze zu fetzen und zu prügeln. Die Nerven liegen blank, die Emotionen kochen hoch. Schließlich war Matze ein Opfer und jeder seiner Klassenkameraden irgendwie Mobber, Mitläufer, Wegseher oder Zuschauer. Der schlimmste von allen ist Lucky, der seine Mitschüler durch die Bank schikaniert und terrorisiert. Als Sven (Jeremias Wittiber) neu in die Klasse kommt, trifft er auf eine Mauer aus Schweigen und Aggression.

Dank Svens Hartnäckigkeit wird Matzes Geschichte nun in achtzehn schnell geschnittenen Bildern   facettenreich von hinten aufgerollt. Mit wenig Requisiten befindet man sich mal im Lehrerzimmer, mal in Küchen und Wohnzimmern, immer wieder aber auf dem Schulhof. Wie in einem Krimi puzzeln sich so unterschiedliche Motive und Hintergründe für Matzes Selbstmord zusammen. Einfache Schuldzuweisungen gibt es keine, stattdessen ein komplexes Gespinst aus Verzweiflung, Frust und Druck.

Dass die Inszenierung nicht zum plakativen Betroffenheitstheater gerät, ist nicht nur der grandiosen Leistung der jungen Schauspielschüler und alten Theaterhasen wie Burkhard Wein, Peter W. Hermanns, Sybille Denker und Georg Blumreiter zu verdanken, sondern auch dem klug austarierten Wechsel von Ernst und Leichtigkeit, Ruhe und Aktion. In schnellem Wechsel reihen sich fiese Prügeleien an zarte Liebeleien oder Comedy-Szenen wie das Tohuwabohu um Svens Vater, dem Hobbykoch. Dazwischen zeigen Freiburger Jugendliche mit beeindruckenden Breakdance- und Rap-Einlagen ein kraftvolles Stück Jugendkultur.

Der Aufklärungsgestus des Gripstheaters wird spürbar aufgeweicht, die Figuren sind vielschichtig und bieten reichlich Diskussionsstoff. Spürbar ist die intensive Zusammenarbeit von Regie und Jugendlichen. Hart geht’s auf der Bühne aber trotzdem zu: Nicht nur die realistischen Kampfszenen, sondern auch das Schimpfwortarsenal hat’s in sich. Nein, übertrieben sei das nicht, sie würden so was schon kennen, erzählen Jugendliche später im Foyer. So beschaulich ist Freiburg dann doch nicht.

Marion Klötzer